Mein Sohn Jochen, der leider schon verstorben ist, hatte eine künstlerische Ader. Er spielte zeitweise in einer Band und war schriftstellerisch tätig.

Eines Tages überraschte er mich damit, dass er Gedichte berühmter deutscher Dichter "umgeschrieben" hatte, so dass sie einen "magischen" Inhalt bekamen. Zwei dieser "Werke" habe ich bereits im Februar 2011 in dieser Reihe veröffentlicht. Es waren angeblich "Jugendwerke" von Goethe und Schiller als "zaubernde Dichter".

Da inzwischen die Mystik immer mehr an Boden gewinnt, soll diesmal seine Geschichte eines "Hellsehers" zitiert werden, die durch die Gedichte von Eugen Roth inspiriert wurde, der viele seiner Werke mit den Worten "Ein Mensch …" begann.  

 

Der "Hellseher"

Ein Mensch, wie ihn hier keiner kennt
- wahrscheinlich aus dem Orient -
gab an, dass er ein "Seher" sei.
"Ein Schwindler", sprach man, "Mogelei!"

Doch wer kann Neugier widerstehen.
Jeder wollt' ihn "sehen" sehen.
Drum traf man sich in seinem Zelt
in jener fremden Zauberwelt.

Des Sehers Blick war wie aus Eisen.
Nun musst' er seine Kunst beweisen.
Beschwörend hob er die Hand empor,
es wurd' gleich still, man war ganz Ohr.

Dann hub er an mit tiefem Bass:
"Es ist soweit, ich sehe was,
und zwar des Bürgermeisters Weib
bei ihrem liebsten Zeitvertreib.

Sie ist nicht hier zu dieser Stund'
und das hat seinen guten Grund,
denn auch der Apotheker Meier
kam nicht zu dieser edlen Feier."

"Genug", rief da der Bürgermeister,
"sie sind ein Lügner, ein ganz dreister.
Seh'n sie was anderes, sie Schuft.
- Ich muss mal eben an die Luft."

Das Flüstern nahm und nahm kein Ende,
so mancher rieb die feuchten Hände.
Der Seher aber ließ sich Zeit,
doch dann war's wieder mal soweit.

"Ich sehe", sprach er, "Doktor Schulz.
Er fühlt der Lehrersfrau den Puls …"
"Halt!" rief da der Doktor blass,
"hier sind zehn Mark, überschlagen sie das."

Nun wurd' es unruhig im Parkett,
und was man hört', klang gar nicht nett.
Schließlich kam man zu dem Schluss,
dass man den Mensch entfernen muss.

Wer weiß, was dieser fremde Mann
am End noch alles sehen kann!
Ein jeder gab ihm eine Spende,
damit der Spuk ein Ende fände.

Draußen dann benahm man sich
plötzlich wieder freundschaftlich.
"Furchtbar, diese Schwindelei.",
hörte man so nebenbei.

Jeden sah man sich empören:
"Wie kann der hier den Frieden stören!"
Zu Haus' jedoch, man ahnt es schon,
gab's manche heft'ge Diskussion.
 

Diese "Ballade" eignet sich übrigens sehr gut, um in geeignetem Rahmen, etwa einer Ansage, vorgetragen zu werden. Man muss sie allerdings dann mit der notwendigen "Dramatik" deklamieren. Die Texte des "Sehers" sollten also beispielsweise mit einer theatralischen Bassstimme gesprochen werden.

 
in memoriam Franz Braun, Köln, † 2016